NACH DEM RAUBüBERFALL WURDE SIE VON DER JUWELIERIN ZUR KäSERIN

Zwei Streifschüsse am Kopf zwangen Rita Laudato aus Chiasso dazu, ihren Beruf zu wechseln. Nun ist sie erfolgreiche Unternehmerin – und kämpft immer wieder mit Tiefschlägen.

Es gibt Menschen, deren Leben durch ein Schlüsselerlebnis in ein Vorher und Nachher geteilt ist. Rita Laudato ist so ein Mensch. Und ihr Schlüsselerlebnis ist eines der dramatischeren Art.

Es war der 25. Februar 2011, ein sonniger und frühlingshaft warmer Tag, als ein nicht sonderlich auffälliger Mann ihren Juwelierladen am Corso San Gottardo – der Haupteinkaufsstrasse von Chiasso – betrat. Er gab vor, einen Ehering kaufen zu wollen. Als Laudato – die damals 44-jährig war und Maiocchi hiess – die Ringe präsentierte, zückte der Mann eine Pistole und verlangte die Herausgabe teuren Schmucks.

Zwei Schüsse trafen sie am Kopf

Die meisten anderen Menschen hätten gesagt: Nimm mein Gold, aber lass mich am Leben. Nicht so Laudato. «Ich hatte keine Angst. Ich stritt mit dem Räuber, wollte ihn überreden, die Pistole beiseite zu legen», erzählt sie. Und erklärt: «Ich habe einen starken Charakter.»

Mit solchem Widerstand hatte der Mann, ein Amateur, nicht gerechnet. Er wurde nervös, schlug sie mit der Pistole auf den Kopf und schoss dreimal auf sie. Zwei Schüsse trafen sie am Kopf – einer an der Schläfe, einer an der Stirn. Zwölf Jahre später ist noch immer eine Narbe sichtbar.

«Zum Glück waren beides nur Streifschüsse», sagt Laudato, «sonst wäre ich nicht mehr hier.» Ihren Willen, den Laden mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, hatte die ausgebildete Goldschmiedin, Gemmologin und Juwelierin aber durchgesetzt: Der Räuber zog ohne Beute ab.

Noch am selben Abend wurde er in Brescia in Norditalien gefasst und dort später von einem Gericht verurteilt – allerdings nur wegen versuchten Raubs, aber nicht wegen versuchter Tötung und auch nicht wegen Körperverletzung. Das ärgert Rita Laudato bis heute.

Nein, traumatisiert sei sie nie gewesen, sagt sie. «Ich bin Meisterin meines Lebens, ich lasse mich nicht von einer solchen Sache davon abbringen.» Drei Tage nach dem Raub begann sie schon wieder zu arbeiten.

Trotzdem führte der Raubüberfall dazu, dass sie ihren Beruf wechselte – wenn auch unfreiwillig. Ihr damaliger Ehemann, mit dem sie 1999 den Juwelierladen eröffnet hatte, wollte nicht mehr, dass sie dort arbeitete. Ihr eigensinniges Temperament sei lebensgefährlich, fand er. Später ging die Ehe in die Brüche.

Auch andere Familienangehörige und Freunde rieten ihr davon ab, an den Corso San Gottardo zurückzukehren, weil sie beim Überfall ihr Leben weniger verteidigt hatte als den Laden.

«Ich wollte nicht einfach ein neues Kapitel schreiben, sondern ein neues Buch.»

«Ich musste mich beruflich neu erfinden», sagt die heute 55-jährige Mutter zweier erwachsener Söhne. «Und ich wollte es radikal tun, nicht einfach ein neues Kapitel schreiben, sondern ein neues Buch.»

Was also tun? Zurück in ihre beiden alten Berufe – sie war zuerst Buchhalterin, dann Malerin – wollte sie nicht. Laudato liebt Kühe, deren harmonisches Zusammenleben sie lobt. Und Lebensmittel. Sie begann, in einer kleinen Molkerei zu arbeiten und fand Gefallen daran.

Als Grossmutter in der Berufslehre

Dann machte sie im Tessin und im Kanton Freiburg eine dreijährige Berufslehre zur Milchtechnologin. «Ich war Grossmutter, die anderen Schüler 16-, 17-, 20-jährig. Das war lustig und schön.» Laudato hängte drei weitere Jahre an, bestand mit 51 Jahren die Berufsprüfung und beendete ihre Ausbildung mit dem eidgenössischen Fachausweis.

Als erstes arbeitete sie in der Latteria del Ticino in Sant'Antonino bei Bellinzona, dem grössten milchverarbeitenden Betrieb der Südschweiz. Doch nach einem Jahr hatte sie genug. «Ich wollte selbstständig sein und selber etwas gestalten. Ich brauche Freiheit.»

Der Schritt, ein eigenes Unternehmen zu gründen, war da nur logisch. 2019 begann sie, in Chiasso ihre Molkerei aufzubauen – in fünf Minuten Fussdistanz zu ihrem ehemaligen Juweliergeschäft, auf der anderen Seite der Bahngleise. Im Untergeschoss ihres Wohnhauses, wo vorher der Keller und die Waschküche waren, installierte sie für mehrere Hunderttausend Franken die südlichste Käsefabrik der Schweiz.

Die Pandemie gefährdete ihr junges Unternehmen

Vor drei Jahren kam der grosse Moment: Rita Laudato stellte ihre ersten Käse her – alles Neuschöpfungen mit Namen wie Penz und Ciass, vor allem Weich- und Edelschimmelkäse. «Ich mache nichts, was Tradition hat, also keine Formaggini, Formagelle und Alpkäse», sagt sie.

Und auch nicht den Zincarlìn aus dem benachbarten Valle Muggio, diesen unverwechselbaren Käse, der wie ein kleiner Vulkan aussieht und an Geschmack nicht zu überbieten ist. Stattdessen lautet ihr Slogan: «Una tradizione comincia» – eine Tradition beginnt.

Zehn verschiedene Käsesorten hat Laudato im Angebot. Und Joghurt, Ricotta und Glace. Doch der Start war denkbar schwierig. Kaum hatte sie den Betrieb eröffnet, musste sie ihn schon wieder schliessen. Denn wegen Covid waren ihre wichtigsten Kunden – Restaurants und Hotels – zu.

«Das war hart, weil ich meine ganze Energie, mein ganzes Leben investiert hatte. Und praktisch mein ganzes Geld.» Die Zukunft ihres Jungunternehmens war gefährdet.

Sie arbeitet bis zu 19 Stunden am Tag

Mittlerweile blüht das Geschäft, die Caseifico di Rita macht sogar einen Gewinn. Laudato kann sich der Aufträge fast nicht erwehren, arbeitet zwischen 12 und 19 Stunden am Tag. «Die Leute lieben den Käse, weil er anders ist als die anderen», erklärt sie sich den Erfolg.

Den erarbeitet sie sich hart. An den Produktionstagen steht sie mitten in der Nacht auf, geht um 1 Uhr in der Früh die frische Milch abholen, kommt um 2 Uhr zurück in ihre Käserei und steht dort bis abends um 20 Uhr. Zwei Drittel der Zeit verbringt sie mit Reinigen.

Der Aufwand ist besonders gross, weil sie in ihrem kleinen Betrieb so viele Käsesorten mit verschiedenen Kulturen und Schimmelpilzen herstellt. 3000 Liter Milch verarbeitet sie jeden Monat zu rund 200 Kilogramm Käse.

Zu ihren Hauptabnehmern gehören Spezialgeschäfte, Restaurants, Hotels, Private und die vier grossen Tessiner Manor-Lebensmittelabteilungen. Auch in der Deutschschweiz hat sie erste Kunden.

In welchem guten Speiselokal in der näheren und weiteren Umgebung von Chiasso und Mendrisio man sich auch immer umhört – ob auf dem Monte Generoso oder zuhinterst im Muggiotal: Rita Laudatos Käse sind auf der Speisekarte zu finden.

«Das gibt mir den Antrieb, weiterzumachen», sagt die Frau, die vor zwölf Jahren nicht wusste, ob sie überleben würde. «Ich bin zufrieden.»

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